Wo Kirche nicht im eigenen Saft schmort

Predigen genügt hier nicht: In den evangelischen Gemeinden 
im früheren Ostpreußen bedeutet Seelsorge vor allem Fürsorge

Von Thomas Schneider

Wer nicht singen kann, der hat in Prawdinsk schon verloren. Es gibt
keine Orgel und keinen Chor, die einer schwachen Stimme helfen
könnten. Wenn Alfred Scherlies in der stillgelegten Bäckerei "Großer
Gott wir loben dich" anstimmt, ist er auf sich allein gestellt; fünf
Strophen lang. Zwar sitzen ihm 40 Gottesdienstbesucher gegenüber,
überwiegend Frauen, aber viele singen nur zaghaft mit. Manche bewegen
stumm ihre Lippen, während sie in die Gesangbücher schauen. Die
meisten Gläubigen in der Kirchengemeinde von Prawdinsk nämlich
sprechen fast gar kein Deutsch.

Die Wände in der ehemaligen Backstube sind weiß gekachelt; nackte
Glühbirnen verbreiten ihr mattes Licht. Ein Kruzifix an der Wand ist
der einzige Gegenstand, der an einen Gottesdienstraum erinnert. Damit
es nicht gar zu profan aussieht in der provisorischen Kirche, hat man
Tüllgardinen vor die nun kalten Backöfen gehängt.

Den Abschnitt aus dem Evangelium trägt Scherlies auf Deutsch vor,
anschließend übersetzt die junge Dolmetscherin Nastja ins Russische.
Bei der Predigt und beim Vaterunser wird genauso verfahren; deshalb
dauert der Gottesdienst mehr als neunzig Minuten. "Und zum Schluss
singen wir auf Russisch das Lied ,Bog sdjes', also ,Gott ist da'",
kündigt Scherlies an. Das ist der Höhepunkt des Gottesdienstes, denn
jetzt können ausnahmsweise einmal alle mitsingen.

Die meisten der Protestanten in Prawdinsk sind Russlanddeutsche. Sie
leben erst seit wenigen Jahren in der Oblast Kaliningrad, dem kleinen
russischen Gebiet rund um das frühere Königsberg. Familie S. zum
Beispiel kommt aus Kasachstan. "Russen und Deutsche sind dort nicht
mehr gut gelitten, seitdem es mit der Sowjetunion zu Ende ging", sagt
Mutter Alina, "darum sind wir hierhin gezogen." Mit ihren drei
Töchtern bewohnt die junge Witwe jetzt ein kleines, zugiges Haus in
einem Dorf bei Prawdinsk.

An diesem Abend ist zum ersten Mal der Pfarrer bei ihr. Im Wohnzimmer
läuft den ganzen Abend der Fernseher, ohne dass ihn jemand beachtet.
Ein buntes Jesus-Poster hängt an der Wand. Der Besuch ist für die
Familie eine große Ehre. Für Scherlies hat Alina mehr aufgetischt, als
sie sich leisten kann: Gebratene Fische und Frikadellen, Braten und
Kartoffeln, Eier, Schnittchen und drei Sorten Kuchen. So viele
verschiedene Sachen kämen hier sonst in einer Woche nicht auf den
Tisch, vermutet Scherlies.

Familie S. ist praktisch ohne Einkommen. Alina erzählt von ihrem Mann,
der im vorigen Jahr an Krebs gestorben ist, und vom letzten Winter, in
dem sie kein Geld zum Heizen hatte. "Ich kann leider nicht immer in
die Kirche kommen", entschuldigt sie sich, "wegen meiner Jüngsten, die
ist erst zwei."

Einige tausend Russlanddeutsche sind seit 1991 aus allen Teilen der
ehemaligen Sowjetunion ins Kaliningrader Gebiet gezogen. Nur wenige
haben ihr Glück gemacht. Alina S. fand zunächst Arbeit in einer
Kolchose, aber die wurde privatisiert, und nun ist Alina arbeitslos.
Auf dem Dorf eine neue Arbeit zu finden ist fast unmöglich, ein Auto
kann sich die Witwe nicht leisten. Außerdem hat sie niemanden, der auf
die kleine Tochter aufpassen würde. Die staatliche Unterstützung ist
minimal. Von der Kirche hat sie vor einiger Zeit eine Kuh bekommen.
Ohne die und ohne ihre Hühner käme sie nicht über die Runden.
Zwei Stunden verbringt Scherlies bei Alina S., dann fährt er zurück
nach Kaliningrad. In einem alten Audi geht es durch die Nacht, vorbei
an den Ruinen mittelalterlicher Backsteinkirchen, durch Alleen, über
Kopfsteinpflaster. Auf diesen Straßen fühlt sich der gebürtige
Ostpreuße noch immer zu Hause. "Wahrscheinlich mehr als die meisten
Gläubigen in den Gemeinden", sagt er. Er weiß noch, dass Prawdinsk
einmal Friedland hieß und Sewskoje Böttchersdorf. Von seinen
Gemeindemitgliedern, die erst zwei, drei oder fünf Jahre hier leben,
wissen das die meisten nicht, und es spielt für sie auch keine Rolle.
Die Alleen gehören zu dem wenigen, das aus der Zeit seiner Kindheit
noch geblieben ist. Wenn Scherlies unterwegs sieht, dass von den alten
Kirchenmauern die besten Backsteine abgetragen, geputzt, gestapelt und
zu Neubauten transportiert werden, regt er sich auf, aber nur ein
bisschen und nur manchmal. "Die Leute machen das ja aus Not", sagt er.
Die meisten dieser Kirchen aus dem 13. oder 14. Jahrhundert haben
keine Chance, vor dem endgültigen Verfall gerettet zu werden. In
einigen Jahren werden viele von ihnen verschwunden sein.
Scherlies ist 67 Jahre alt und Rentner. Für einige Monate ist er in
die alte Heimat gekommen, um in den kleinen Gemeinden der Oblast
Kaliningrad auszuhelfen. Jeden Abend fährt er zum Gottesdienst in ein
anderes Dorf. Unterwegs bespricht er mit Dolmetscherin Nastja das
Predigtthema für die nächsten Tage. In dieser Woche will er über die
Gründe sprechen, derentwegen die Menschen zum Gottesdienst kommen. Am
Ende der Predigt soll die Mahnung stehen, dass es in der Kirche allein
darum geht, das Wort Gottes zu hören.

Das ist die Theorie. In der Praxis geht es einmal pro Woche in der
Kirche ums Geld, immer dienstags um zehn. Dann hat Propst Erhard
Wolfram im evangelischen Gemeindezentrum am Prospekt Mira in
Kaliningrad Sprechstunde. Er ist verantwortlich für die vielen kleinen
Gemeinden in der Oblast, die seit Beginn der 90er Jahre entstanden
sind. Am Dienstagvormittag sitzt er in seinem Büro, vor sich auf dem
Tisch eine Mappe mit deutschen Geldscheinen, und empfängt die
Hilfsbedürftigen: Eine Mutter ist mit einem sechs Monate alten Baby
gekommen; die Ärzte haben bei dem Kind ein Augenleiden festgestellt,
für die Behandlung fehlt den Eltern das Geld. Ein junger Mann bittet
ebenfalls um Geld für einen Krankenhausaufenthalt und bietet an, als
Gegenleistung für die Kirche Bilder zu malen. Ein Ehepaar mit Kindern,
das seit Jahren mit zwei anderen Familien in einer schmutzigen,
überfüllten Gemeinschaftswohnung lebt, möchte sich eine eigene Wohnung
kaufen und hätte dazu gern einige hundert Mark Kredit. Eine alte Frau
braucht eine neue, stärkere Brille . . .

17 Männer und Frauen sind gekommen, legen die Bescheinigung des
Pfarrgemeinderats vor, bekommen Geld, unterschreiben die Quittung.
Zeit für lange Gespräche bleibt Erhard Wolfram da nicht. Sichtlich
unbehaglich fühlt er sich, als eine alte Frau ihm dankbar die Hände
küssen will. In der Nähe von Bremen, wo er viele Jahre Gemeindepfarrer
war, gab es solche Demutsgesten nicht.

Mit Summen von 50 oder 100, manchmal auch 400 Mark übernimmt die
Kirche in Kaliningrad soziale Aufgaben, die eigentlich der Staat
erfüllen müsste. Aber von dem haben Rentner, Kranke, Arbeitslose und
Familien mit Kindern in Russland kaum Hilfe zu erwarten. "Wir stopfen
die Löcher", sagt der Sechzigjährige, "aber wirklich lösen können wir
die sozialen Probleme nicht." Er weiß, dass die humanitäre Hilfe seine
Kirche in Kaliningrad sehr attraktiv macht. Oft treffen Transporte mit
Kleider- und Lebensmittelspenden aus Deutschland ein, und viele
gebürtige Ostpreußen spenden regelmäßig Geld. Gut möglich, dass von
den rund 1200 Familien, die im Kaliningrader Gebiet zur evangelischen
Kirche gehören, einige gerade deswegen zu den Gottesdiensten kommen
"und nicht nur um ihres Seelenheils willen. "Ich denke manchmal
darüber nach, aber schließlich kann ich den Menschen nicht ins Herz
sehen", sagt Wolfram.

Das evangelische Gemeindezentrum liegt in einer der teuersten
Wohngegenden von Kaliningrad. Rund um den Prospekt Mira stehen viele
gutbürgerliche Häuser aus deutscher Zeit, und in den vergangenen
Jahren sind eine Menge protziger Neubauten dazugekommen, mit Türmchen,
Überwachungskameras und Gittertoren, die man im Boden versenken kann.
Hier bauen die "Neuen Russen", die Minderheit derer, die das Chaos
nach dem politischen Umbruch genutzt haben, um große und oft unsaubere
Geschäfte zu machen.

Das Kirchenzentrum ist neu und nicht eben geeignet, nach außen hin
Bescheidenheit zu demonstrieren: ein halbrunder Bau mit zwei hohen
Türmen, aus roten Backsteinen errichtet, der an eine Burg des
deutschen Ritterordens erinnert. Rund zwei Millionen Mark hat der
Neubau gekostet, bezahlt wurde er von der Evangelischen Kirche der
Union in Berlin. Seit gut einem Jahr residieren hier Gemeinde und
Propsteiverwaltung. Vorher fanden die Gottesdienste in einem
ehemaligen Kino statt. Mit dem Umzug haben sich die Protestanten in
Kaliningrad etabliert. Das sehen nicht alle in der Stadt und der
Region gerne. "Die Furcht der russischen Bevölkerung vor einer Art
Regermanisierung ist schon gelegentlich spürbar", sagt Wolfram.
Das hat mit der verzweifelten wirtschaftlichen Lage der Oblast
Kaliningrad zu tun. Auch haben in den vergangenen Jahren deutsche
Rechtsextremisten in der Oblast ihr Unwesen getrieben. Doch die
evangelischen Gemeinden sind kein Vorposten deutschen Machtstrebens.
In den Familien, die zu den Gemeinden gehören, ist in der Regel ein
Ehepartner russlanddeutsch und der andere russisch. Die Gemeinden
werden aus Deutschland unterstützt, doch sie gehören zur
"Evangelisch-lutherischen Kirche in Russland und anderen Staaten
(Elkras)". Deutsch ist zwar Gottesdienstsprache, aber für die meisten
Gemeindemitglieder eine Fremdsprache.

"Tür! Es heißt Tür! Sagt niemals ,Tjur'. Das versteht in Deutschland
niemand!" Elvira Seruga ist leicht verärgert. Schon lange gibt sie im
Frauenkreis der Gemeinde Deutschunterricht, aber die Aussprache ihrer
Schülerinnen wird nicht besser. 40- bis 50-jährige Frauen quälen sich
durch Lehrbuchtexte für Kinder, in denen es um Rummelplätze und
Klassenzimmer geht. Diese Strapazen nehmen die Menschen auf sich, weil
sie möglichst bald nach Deutschland ausreisen wollen. Für viele in den
Gemeinden ist die Oblast Kaliningrad nur eine Durchgangsstation. Auch
Elvira Seruga wollte einmal nach Deutschland ausreisen. Das war 1947,
als die letzten Deutschen Königsberg verlassen mussten; siebzehn war
Elvira damals. Sie schaffte es nicht rechtzeitig zum Zug und blieb
allein in der Stadt am Pregel. Lange lebte sie versteckt, eine Zeit
lang in den Wäldern, dann schlug sie sich nach Litauen durch und
arbeitete bei Bauern, bevor sie nach Kaliningrad zurückging. Sie
lernte Russisch und heiratete später einen Russen.

Dass sie Deutsche war, sollte in ihrer Umgebung niemand wissen, aber
ihrem Sohn brachte sie heimlich die Sprache bei. Das flog auf, als der
Junge beim Deutschunterricht in der Schule ständig seine Lehrerin
verbesserte. "Kaum zu glauben, dass immer noch Faschisten unter uns
leben, hat die Lehrerin zu mir gesagt." Evangelische Gottesdienste gab
es nach der Vertreibung der letzten Deutschen nicht mehr. Elvira
Seruga feierte heimlich Weihnachten und Ostern und betete mit ihrem
Sohn. Dass sie heute wieder in die Kirche gehen kann, ist für sie "das
größte Wunder".

Auch bei den russlanddeutschen Protestanten in Kasachstan, der Ukraine
oder Sibirien überlebte die Religion im Verborgenen. Lange Zeit
konnten sie ihre Kinder nur heimlich taufen und trafen sich zum
Bibellesen in Wohnzimmern. Die meisten Pfarrer wurden in der
Stalin-Ära verhaftet und starben im GULag. Der Glaube wurde in vielen
Familien nur in Bruchstücken weitergegeben. "Viele hier sagen, dass
sie deshalb evangelisch sind, weil ihre Großeltern es waren", so
Erhard Wolfram. "Aber was evangelisch eigentlich bedeutet, wissen sie
nicht genau." Taufen und Konfirmationen, auch von Erwachsenen, gibt es
darum sehr oft. Aber die Kirche wirbt nicht aktiv um Gläubige. Wolfram
will "der Orthodoxie keine Konkurrenz machen".

Was die Seelsorge angeht, lassen die Behörden die Kirche ungestört
arbeiten. Doch immer wieder gibt es Probleme, Hilfslieferungen durch
den Zoll zu bringen. Waldemar Deleske ist als hauptberuflicher
Mitarbeiter der Propstei nur für die Abwicklung von Zollformalitäten
zuständig. Er kennt alle Vorschriften, alle Beamten und viele Tricks;
aber manchmal nützt auch das nicht. Im Winter stand zum Beispiel in
Hamburg eine gespendete Großkücheneinrichtung bereit. Im
Gemeindezentrum Kaliningrad sollte sie aufgebaut werden, um für
Schulen oder Altersheime zu kochen. "Das soll ein Signal sein: Die
Kirche schmort nicht im eigenen Saft, sie hilft auch anderen." Aber
ein halbes Jahr lang konnte er die Behörden nicht dazu bringen, die
Einfuhrgenehmigung zu erteilen. Immer wieder wurde ihm beschieden:
"Küchengeräte werden nicht als Hilfsgüter anerkannt."

Dieser bürokratische Starrsinn sei das größte Problem in der Oblast.
"Wer aus eigener Initiative etwas machen will, eine Firma gründen oder
ein Hilfsprojekt, wird so lange schikaniert, bis er aufgibt." 1991,
als das Kaliningrader Gebiet für Ausländer geöffnet wurde, war Deleske
noch optimistisch. Nach 45 Jahren verordneter Isolation glaubten
viele, aus Kaliningrad könne eine Art baltisches Hongkong werden, eine
Drehscheibe für den Ost-West-Handel. Diese Hoffnungen haben sich
zerschlagen. "Wir erleben hier täglich eine Kombination aus brutalem
Manchesterkapitalismus und byzantinischer Bürokratie", sagt Alfred
Scherlies, "und das Bindeglied zwischen beiden ist die Korruption."

Auch die Hoffnung auf den Fremdenverkehr in der Region hat sich nicht
erfüllt. Die Heimwehtouristen kommen nicht mehr, wie Anfang der
neunziger Jahre, in Scharen aus Deutschland angereist, um den
Königsberger Dom und das Grab Immanuel Kants zu sehen. Die alten
Königsberger sterben. Eines Tages wird das auch für die
Kirchengemeinden ein großes Problem, denn ein Großteil der Spenden
bekommen sie von diesen Ostpreußen, die in ihrer alten Heimat etwas
Gutes tun wollen.

Die Zukunft der Gemeinden ist aber nicht nur eine Frage des Geldes.
Wenn die Kirche hier überleben will, braucht sie langfristig Pfarrer,
die die Sprache der Menschen sprechen, und diese Sprache ist Russisch.
In Deutsch singen die Jugendlichen allenfalls ein paar Lieder. Erhard
Wolfram beschreibt seine Aufgabe so: "Als Pfarrer aus Deutschland muss
ich versuchen, mich hier irgendwann überflüssig zu machen." In Sankt
Petersburg gibt es eine neue theologische Ausbildungsstätte. Auf deren
Absolventen richten sich die Hoffnungen der Protestanten in
Kaliningrad. Ob sie sich erfüllen? Viele hier sitzen ohnehin auf
gepackten Koffern. In den nächsten Jahren werden sie nach Deutschland
abwandern. Selbst Waldemar Deleske, der schon lange hier lebt, ist
sich nicht sicher, ob er für immer hier bleiben will: "Ich weiß nicht,
ob es in Kaliningrad noch einmal besser wird. Jedenfalls bin ich zu
alt, um darauf noch dreißig Jahre zu warten."

Quelle: Süddeutsche Zeitung, vom 10.06.2000
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gefunden von Bert Elders(50), Assen, Netherlands